AutorIn des Monats

An dieser Stelle präsentieren wir Ihnen unsere beliebtesten Autorinnen und Autoren. Viel Vergnügen beim Kennenlernen und Lesen!


Autor des Monats: Oliver Fahn

Oliver Fahn wurde am 21. März 1980 im oberbayerischen Pfaffenhofen an der Ilm geboren. Der verheiratete Heilerziehungspfleger und ehemalige Langstreckenläufer ist stolzer Vater zweier Jungs. Schreiben ist für ihn die beste Strategie, um Dinge zu ordnen und zu verarbeiten, die im oft so chaotischen Leben geschehen. 

Fahn verfasst regelmäßig Beiträge für Kulturmagazine und Anthologien. Unter anderem wurden seine Texte bei experimenta, etcetera, ausreißer, im Wiener Verlag, von der Stadt St. Pölten und der Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlicht.

Kontakt: oliver.fahn@gmx.de 


Das Glück auf dem Feld

Werner saß im Speisesaal, die Ellenbogen auf der Tischkante, sein Kinn auf seine beiden Handflächen gestützt, auf eine Weise, die seit jeher seine Denkerpose gewesen war. So auch jetzt, im Augenblick, sein selbstgeschaffenes Imperium im Visier.

"Der Kaba ist noch zu heiß", stellte Werner fest, nachdem er seine Haltung aufgegeben hatte, Mittel- und Zeigefinger durch den Henkel steckte und postwendend in winzigen Schlucken am Inhalt seiner Tasse schlürfte, wobei er bei jedem neuerlichen Nippen sein Gesicht verzog und hinzusetzte: "Ich verbrenne mir noch den Mund."

Dieser Umstand gab Werner Anlass, laut aufzulachen und seiner heiseren Stimme dann einen triumphalen Beiklang zu geben: "Sieh nur Marco, sieh dir meine Stadt an, schau auf meine vielen Gebäude. Das hättest du nicht gedacht, das hätte auch ich nicht gedacht. Das hätte niemand gedacht. Das hätte ich niemals erwartet. Mein Reich wächst und wächst, es wächst wohl noch auf tausend Jahre."

"So hast du dir das gewünscht, nicht wahr?", antwortete Marco, der gewohnt war, Werner nicht widersprechen zu dürfen. Bei so sensiblen Angelegenheiten wie den Immobiliengeschäften duldete der nämlich keinerlei Gegenwind. Manchmal überanstrengte es Marco, wie behutsam er Werner auf den Zahn fühlen musste. Gerade aber sah er sich in der psychologischen Schiene ganz gut aufgehoben. Wenn er Werner Fragen vorlegte, die im eigentlichen Sinne Antworten waren, die der sich auch selbst hätte geben können, blieben in diesen Weihnachtsfeiertagen die sonst vorprogrammierten Konflikte draußen vor der Tür.

Während Marco also jederzeit darum bemüht war, Dinge zu sagen, die Werner in keiner Weise kränken konnten oder seine unvermindert fortbestehende Eitelkeit schmälern würden, verfolgte er den regen Betrieb, der am 26. Dezember zwischen den Tischen herrschte. Es wuselte vor Menschen, vor Besuchern. Einige der von Festlichkeit getragenen Mienen schienen mit einem natürlichen Lächeln ausgestattet, andere wiederum mussten wie unter Zwang einen Ausdruck weihnachtlicher Feierlaune erst mobilisieren. Marco versuchte einzelnen Gesichtern Motive herauszulesen, warum die Leute hergekommen waren, was sie dazu bewogen hatte, es ihm gleichzutun.

Bald wandte sich Marco wieder ungeteilt Werner zu. Der redete nun im zügigen Tempo, verhaspelte sich da und dort, und Marco verstand in etwa bloß die Hälfte. Vielleicht lag es mitunter aber auch daran, dass er mehr noch damit beschäftigt war, Werner zuzunicken, als ihm zuzuhören. Auch wenn Marco Werners sichtbares Bemühen, die straffe Haltung eines Mannes von Rang einzunehmen, als durchaus unverhältnismäßig empfand, nachdem er vorhin schlaff am Tisch gelümmelt war, ließ er ihn selbstverständlich gewähren.

Werner berichtete von weiteren Bauvorhaben und trank seinem Spiegelbild an der Fensterfront vor ihm zu. Vorübergehend meinte Marco, Werner würde sein Referat für das eigene Spiegelbild abhalten. Rasch bemerkte Marco aber, wie Werner auf seine Bereitschaft zur Beteiligung als Zuhörer angewiesen war, denn beizeiten richteten sich dessen Blicke aus weit in die Höhlen zurückgewichenen Augen auch gegen ihn. Wiederkehrend jedoch sah Werner auf sein Gegenbild im Fenster, als müsse er sich seines Ichs vergewissern, seiner Existenz rückversichern.

"Prost", sagte Werner, nun vollends Marco zugewandt. Er gefiel sich offenbar in seiner Funktion des Redners mit Tasse in der Hand, beim Prosten ins Leere, denn Marco saß auf dem Trockenen. Er betrachtete Werner, wie bedächtig der den Kakao zum Mund hinführte und – ehe er einen neuerlichen Schluck nahm – urteilte: "Er ist auch gar nicht mehr heiß, er ist mittlerweile gut trinkbar."

Jenseits des Speisesaals dunkelte es bald. Zu jener Zeit, wo überall sonst die Schotten der Immobilienmakler dicht waren, der Schnee von Stürmen beschleunigt, durch die engen Gassen des Vorortes trieb und sie an manchen Ecken fast unbefahrbar machte, war Werners Ehrgeiz ungebrochen. Im geschützten Rahmen des beheizten Raumes konnte er sich vollends auf seine finanziellen Angelegenheiten konzentrieren.

Der von Mittag verbliebene Duft nach Gänsebraten konnte seiner Nase so wenig anhaben wie die Aromen des frisch aufgebrühten Glühweins, der griffbereit auf einem Servierwagen stand oder die von Heiligabend noch übrigen Zimtsterne in einer ebenfalls jederzeit erreichbaren Schüssel. Von der für Marco so schmeichelhaften Komposition schien Werners Geruchssystem gänzlich unberührt. Stattdessen war er euphorisiert und benebelt von seinen fortlaufenden und nicht an wenigen Stellen horrenden Mieteinnahmen.

Er nahm eine Banknote zwischen seine Finger und roch an ihr mit geschlossenen Augen, als könne er deren Partikel solange inhalieren, bis er sie restlos eingesogen hätte. Dann sagte er: "Wie angenehm mir diese Scheine sind. Ich kenne kein Papier, das ich lieber rieche."

In einem regelrechten Sinnesrausch führte Werner den Geldschein schließlich zu seinem Ohr, rieb ihn und knisternde damit. "Meine Bauwerke sind reine Goldgruben und Geldpaläste. Ach Marco, ich bade im Geld, was könnte schöner sein?"

Werner hatte sich eine gelehrige Geschwätzigkeit angeeignet. Gelegentlich glitt er in diese gewählte Sprechrolle ab. Beim Umgang mit seiner exquisiten Klientel musste jedes Wort auf seine Wirkungsweise geprüft werden, wie die Zutaten in einem Feinkostladen, ehe sie zum Verkauf angeboten wurden. Immerhin war Werner die meiste Zeit mit millionenschweren Kunden betraut, die sich nie mit weniger zufriedengaben, als mit der totalen Perfektion eines Objektes. Im Grunde war Werner auch ein Schneider, der dieser Kundschaft die passende Immobilie auf den Leib schnitt.

"Jeder Zentimeter Platznot in einem Haus wird von meinen Kunden bemängelt", sagte Werner plötzlich mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er seufzte und wirkte dabei unerwartet desillusioniert.

Dieser Zustand dauerte lediglich Sekunden, doch gab er Marco, der gerade dessen Verhalten ausforschte, Anlass, Werner mit dem von Lametta überhangenen Christbaum zu vergleichen, der allmählich zu nadeln anfing. Marco blickte im flotten Wechsel zwischen dem Baum und Werner hin und her. Der Zustand der Fichte und das Befinden Werners, dachte Marco … ergebnislos.

Werner trank abermals selbstgefällig von seinem Kakao.

Er ist ein umgänglicher Mensch, dachte Marco, er ist fein mit mir, solange ich ihm zustimme, seinen Reichtum preise und anerkenne, was er dafür zuvor investiert hat, welch eine große Nummer er im Immobiliengeschäft sein muss, um sich einen derartigen Vermögensüberschuss zu erschaffen.

Werner wollte seine Leistung gewürdigt wissen, das war alles.

Aus der Stille heraus, die entstanden war und bei Marco beklemmende Nachgedanken ausgelöst hatte, erhob sich ein Lied, bei dem Werner mitsummte. Er kannte die weihnachtlichen Texte fast allesamt auswendig, jene traditionellen Strophen der Klassiker. Kurz versuchte Werner mitzusingen, beließ es jedoch beim Versuch.

Marco suchte in seinem Kopf nach Sätzen, die er Werner sagen musste, damit er ihn nicht verstimmte, nach Sätzen, die imstande waren, nach der Ruhe ein Gespräch einzuleiten. Er raufte seine Überzeugungskraft zusammen und versicherte dann weitgehend authentisch: "Ich könnte mir deinen Wohlstand gewiss nie erwirtschaften."

"Ich bin mit meiner Lage zufrieden …"

Marco atmete durch. Werners Wille zum Hehren war ungebrochen. Und Marco konnte ihm Glauben machen, dass er selbst das Hehre erlangen konnte, während andere bereits an den unmittelbar vor ihnen liegenden Chancen scheiterten.

Allmählich kam der Aufbruch nach dem Nachmittagskaffeekränzchen. Im Vorbeigehen grüßten einige einst renommierte, in der örtlichen Gemeinschaft etablierte Leute. Auf Krückstöcken gestützt und über Rollatoren gebeugt, sagten sie Dinge zu Werner wie: "Florieren derzeit die Geschäfte?"

Mit etlichen von ihnen hatte Werner früher wirkliche Geschäfte abgewickelt, andere wiederum hatten nur die Wortlaute von Werners Geschäftspartnern aufgeschnappt und den Jargon in der Langeweile der Seniorenresidenztage übernommen. Marco erkannte in den Männern, die Werner vereinzelt sogar freundschaftlich auf die Schulter klopften, in die Jahre gekommene Kunden aus Zeiten, in denen er seinen Opa ins Maklerbüro begleitet hatte. Damals war Marco ein Junge gewesen.

Jetzt kam dem inzwischen selbst über dreißigjährigen Enkel der Spruch seiner verstorbenen Oma Theresa, die zu ihrem Mann Werner wiederholt gesagt hatte: "Kümmere dich nicht nur um deine Immobilien, du musst dir ein inneres Reich erbauen, im Kleinen das Große sehen, Luftschlösser errichten."

Marco sah auf das eigentlich weiße, von braunen Flecken gemaserte Tischtuch. Aus Opa Werners tieferem Mundwinkel floss ein Rinnsal von Kakao.

Werner schien mit dem nächsten Mal Würfeln in die Realität zurückgekommen, als hätte es in ihm drinnen einen Schalter umgelegt. Endlich ging das Spiel weiter.

"Auf dem Los-Feld kassiere ich 200 Mark", sagte er und erkannte in jenem lichten Moment vermutlich, dass er hier keine Meilensteine mehr bezwingen werden würde wie damals als selbständiger Immobilienmakler.

Marcos Augen tränten, als er erkannte, wie versunken Werner nun wieder spielte. Wahrscheinlich rührten Marcos Tränen vom Zug beim Querlüften.

Endlich erhob er sich, trat vor seinen Opa hin, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: "Du bist einfach unbesiegbar, das wusste schon Oma."

Das späteste Glück scheint wie das früheste, dachte Marco.

Etwas schäbig kam er sich manchmal vor, wenn er Opas Sieg den Weg ebnete, indem er seine eigenen Geldscheine verschwinden ließ oder mit seiner Spielfigur eine andere Zahl fuhr, als er ursprünglich gewürfelt hatte, um zusätzliche Steuern bezahlen zu müssen.

Wie liebevoll ihn sein Opa jetzt umarmte, dieser herzliche Druck eines keineswegs verbitterten Menschen, jene resolute Inbesitznahme durch Zärtlichkeiten! Marco begann es – sein Gesicht auf Opas Rücken – zu schütteln. Mit seinen Schummeleien konnte er so falsch nicht liegen, wenn er ihn durch seine Niederlage so glücklich machte.



© Oliver Fahn, 2024


Wir bedanken uns bei Herrn Fahn für die gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren und wünschen ihm weiterhin viel Erfolg beim Schreiben!



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